Kapitel I, Anwendungsbereich, Begriffsbestimmungen und Schutzvoraussetzungen (Art. 1 - 6)

Artikel 1 - Ziel

Ziel dieser Richtlinie ist eine bessere Durchsetzung des Unionsrechts und der Unionspolitik in bestimmten Bereichen durch die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards, die ein hohes Schutzniveau für Personen sicherstellen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden.

Artikel 2 - Sachlicher Anwendungsbereich

(1)   Durch diese Richtlinie werden gemeinsame Mindeststandards für den Schutz von Personen festgelegt, die folgende Verstöße gegen das Unionsrecht melden:

a) Verstöße, die in den Anwendungsbereich der im Anhang aufgeführten Rechtsakte der Union fallen und folgende Bereiche betreffen:

i) öffentliches Auftragswesen,

ii) Finanzdienstleistungen, Finanzprodukte und Finanzmärkte sowie Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung,

iii) Produktsicherheit und -konformität,

iv) Verkehrssicherheit,

v) Umweltschutz,

vi) Strahlenschutz und kerntechnische Sicherheit,

vii) Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Tiergesundheit und Tierschutz,

viii) öffentliche Gesundheit,

ix) Verbraucherschutz,

x) Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten sowie Sicherheit von Netz- und Informationssystemen;

b) Verstöße gegen die finanziellen Interessen der Union im Sinne von Artikel 325 AEUV sowie gemäß den genaueren Definitionen in einschlägigen Unionsmaßnahmen;

c) Verstöße gegen die Binnenmarktvorschriften im Sinne von Artikel 26 Absatz 2 AEUV, einschließlich Verstöße gegen Unionsvorschriften über Wettbewerb und staatliche Beihilfen, sowie Verstöße gegen die Binnenmarktvorschriften in Bezug auf Handlungen, die die Körperschaftsteuer-Vorschriften verletzen oder in Bezug auf Vereinbarungen, die darauf abzielen, sich einen steuerlichen Vorteil zu verschaffen, der dem Ziel oder dem Zweck des geltenden Körperschaftsteuerrechts zuwiderläuft.

(2)   Diese Richtlinie lässt die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, den Schutz nach nationalem Recht in Bezug auf Bereiche oder Rechtsakte auszudehnen, die nicht unter Absatz 1 fallen.

Artikel 3 - Beziehung zu anderen Unionsrechtsakten und nationalen Bestimmungen

(1)   Falls die in Teil II des Anhangs aufgeführten sektorspezifischen Rechtsakte der Union spezifische Regeln über die Meldung von Verstößen enthalten, gelten diese Regeln. Die Bestimmungen dieser Richtlinie gelten insoweit, als die betreffende Frage durch diese sektorspezifischen Rechtsakte der Union nicht verbindlich geregelt ist.

(2)   Diese Richtlinie berührt nicht die Verantwortung der Mitgliedstaaten, die nationale Sicherheit zu gewährleisten, oder ihre Befugnis zum Schutz ihrer wesentlichen Sicherheitsinteressen. Diese Richtlinie gilt insbesondere nicht für Meldungen von Verstößen gegen die Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte betreffen, es sei denn, diese fallen unter das einschlägige Unionsrecht.

(3)   Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung von Unionsrecht oder nationalem Recht in Bezug auf alle folgenden Punkte:

a) den Schutz von Verschlusssachen;

b) den Schutz der anwaltlichen und ärztlichen Verschwiegenheitspflichten;

c) das richterliche Beratungsgeheimnis;

d) das Strafprozessrecht.

(4)   Diese Richtlinie berührt nicht die nationalen Vorschriften über die Wahrnehmung des Rechts von Arbeitnehmern, ihre Vertreter oder Gewerkschaften zu konsultieren, und über den Schutz vor ungerechtfertigten nachteiligen Maßnahmen aufgrund einer solchen Konsultation sowie über die Autonomie der Sozialpartner und deren Recht, Tarifverträge einzugehen. Dies gilt unbeschadet des durch diese Richtlinie garantierten Schutzniveaus.

Artikel 4 - Persönlicher Anwendungsbereich

(1)   Diese Richtlinie gilt für Hinweisgeber, die im privaten oder im öffentlichen Sektor tätig sind und im beruflichen Kontext Informationen über Verstöße erlangt haben, und schließt mindestens folgende Personen ein:

a) Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 45 Absatz 1 AEUV, einschließlich Beamte;

b) Selbstständige im Sinne von Artikel 49 AEUV;

c) Anteilseigner und Personen, die dem Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan eines Unternehmens angehören, einschließlich der nicht geschäftsführenden Mitglieder, sowie Freiwillige und bezahlte oder unbezahlte Praktikanten;

d) Personen, die unter der Aufsicht und Leitung von Auftragnehmern, Unterauftragnehmern und Lieferanten arbeiten.

(2)   Diese Richtlinie gilt auch für Hinweisgeber, die Informationen über Verstöße melden oder offenlegen, von denen sie im Rahmen eines inzwischen beendeten Arbeitsverhältnisses Kenntnis erlangt haben.

(3)   Diese Richtlinie gilt auch für Hinweisgeber, deren Arbeitsverhältnis noch nicht begonnen hat und die während des Einstellungsverfahrens oder anderer vorvertraglicher Verhandlungen Informationen über Verstöße erlangt haben.

(4)   Die Maßnahmen zum Schutz von Hinweisgebern gemäß Kapitel VI gelten, soweit einschlägig, auch für

a) Mittler,

b) Dritte, die mit den Hinweisgebern in Verbindung stehen und in einem beruflichen Kontext Repressalien erleiden könnten, wie z. B. Kollegen oder Verwandte des Hinweisgebers, und

c) juristische Personen, die im Eigentum des Hinweisgebers stehen oder für die der Hinweisgeber arbeitet oder mit denen er in einem beruflichen Kontext anderweitig in Verbindung steht.

Artikel 5 - Begriffsbestimmungen

Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1. „Verstöße“ Handlungen oder Unterlassungen, die

i) rechtswidrig sind und mit den Rechtsakten der Union und den Bereichen in Zusammenhang stehen, die in den sachlichen Anwendungsbereich gemäß Artikel 2 fallen, oder

ii) dem Ziel oder dem Zweck der Vorschriften der Rechtsakte der Union und der Bereiche, die in den sachlichen Anwendungsbereich gemäß Artikel 2 fallen, zuwiderlaufen;

2. „Informationen über Verstöße“ Informationen, einschließlich begründeter Verdachtsmomente, in Bezug auf tatsächliche oder potenzielle Verstöße, die in der Organisation, in der der Hinweisgeber tätig ist oder war, oder in einer anderen Organisation, mit der der Hinweisgeber aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit im Kontakt steht oder stand, bereits begangen wurden oder sehr wahrscheinlich erfolgen werden, sowie in Bezug auf Versuche der Verschleierung solcher Verstöße;

3. „Meldung“ oder „melden“ die mündliche oder schriftliche Mitteilung von Informationen über Verstöße;

4. „interne Meldung“ die mündliche oder schriftliche Mitteilung von Informationen über Verstöße innerhalb einer juristischen Person des privaten oder öffentlichen Sektors;

5. „externe Meldung“ die mündliche oder schriftliche Mitteilung von Informationen über Verstöße an die zuständigen Behörden;

6. „Offenlegung“ oder „offenlegen“ das öffentliche Zugänglichmachen von Informationen über Verstöße;

7. „Hinweisgeber“ eine natürliche Person, die im Zusammenhang mit ihren Arbeitstätigkeiten erlangte Informationen über Verstöße meldet oder offenlegt;

8. „Mittler“ eine natürliche Person, die einen Hinweisgeber bei dem Meldeverfahren in einem beruflichen Kontext unterstützt und deren Unterstützung vertraulich sein sollte;

9. „beruflicher Kontext“ laufende oder frühere Arbeitstätigkeiten im öffentlichen oder im privaten Sektor, durch die Personen unabhängig von der Art der Tätigkeiten Informationen über Verstöße erlangen und bei denen sich diese Personen Repressalien ausgesetzt sehen könnten, wenn sie diese Informationen melden würden;

10. „betroffene Person“ eine natürliche oder eine juristische Person, die in der Meldung oder in der Offenlegung als eine Person bezeichnet wird, die den Verstoß begangen hat, oder mit der die bezeichnete Person verbunden ist;

11. „Repressalien“ direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen in einem beruflichen Kontext, die durch eine interne oder externe Meldung oder eine Offenlegung ausgelöst werden und durch die dem Hinweisgeber ein ungerechtfertigter Nachteil entsteht oder entstehen kann;

12. „Folgemaßnahmen“ vom Empfänger einer Meldung oder einer zuständigen Behörde ergriffene Maßnahmen zur Prüfung der Stichhaltigkeit der in der Meldung erhobenen Behauptungen und gegebenenfalls zum Vorgehen gegen den gemeldeten Verstoß, unter anderem durch interne Nachforschungen, Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen, Maßnahmen zur (Wieder-)Einziehung von Mitteln oder Abschluss des Verfahrens;

13. „Rückmeldung“ die Unterrichtung des Hinweisgebers über die geplanten oder bereits ergriffenen Folgemaßnahmen und die Gründe für diese Folgemaßnahmen;

14. „zuständige Behörde“ die nationale Behörde, die benannt wurde, um Meldungen nach Kapitel III entgegenzunehmen und dem Hinweisgeber Rückmeldung zu geben und/oder als die Behörde benannt wurde, welche die in dieser Richtlinie vorgesehenen Aufgaben — insbesondere in Bezug auf etwaige Folgemaßnahmen — erfüllt.

Artikel 6 - Voraussetzungen für den Schutz von Hinweisgebern

(1)   Hinweisgeber haben Anspruch auf Schutz nach dieser Richtlinie, sofern

a) sie hinreichenden Grund zu der Annahme hatten, dass die gemeldeten Informationen über Verstöße zum Zeitpunkt der Meldung der Wahrheit entsprachen und dass diese Informationen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fielen, und

b) sie intern gemäß Artikel 7 oder extern gemäß Artikel 10 Meldung erstattet haben oder eine Offenlegung gemäß Artikel 15 vorgenommen haben.

(2)   Unbeschadet der nach Unionsrecht bestehenden Verpflichtungen in Bezug auf anonyme Meldungen berührt diese Richtlinie nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob juristische Personen des privaten oder öffentlichen Sektors und zuständige Behörden zur Entgegennahme und Weiterverfolgung anonymer Meldungen von Verstößen verpflichtet sind.

(3)   Personen, die Informationen über Verstöße anonym gemeldet oder offengelegt haben, anschließend jedoch identifiziert wurden und Repressalien erleiden, haben dennoch Anspruch auf Schutz gemäß Kapitel VI, sofern sie die Voraussetzungen gemäß Absatz 1 erfüllen.

(4)   Personen, die den zuständigen Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallende Verstöße melden, haben unter den gleichen Bedingungen Anspruch auf Schutz im Rahmen dieser Richtlinie wie Personen, die extern Meldung erstatten.